Wegen formaler Fehler und damit verbundenen Ungenauigkeiten habe ich die Klausur zur Analysis I in meinem zweiten Semester nicht bestanden. Das war durchaus ärgerlich, handelte es sich um die erste Matheklausur in meinem Leben, die ich wirklich in den Sand gesetzt hatte. Dabei hatte ich für diese Klausur gelernt, deutlich mehr als für meine gesamten Abiturklausuren zusammen. Ich wollte meine Note nicht wahrhaben, schließlich war doch der Großteil der Ergebnisse richtig und auch der ein oder andere Ansatz für einen Beweis hätte durchaus verwertbar sein können. Die Benotung, fand ich sie damals noch unfair und kleinkariert, war allerdings absolut korrekt.
Man könnte nun sehr leicht sagen: natürlich geht es in der Mathematik auch um die Ergebnisse. Man hat eine Problemstellung gegeben, berechnet etwas und möchte gerne die eine Lösung erhalten. Vielmehr geht es aber auch noch um die (begründete) Korrektheit der Lösung sowie die (begründete) Vollständigkeit des Lösungswegs.
Die Mathematik ist eine genau Wissenschaft. In der Physik, Chemie und Biologie setzt man auf Beobachtungen. Somit ist bereits das grundlegende Fundament dieser Naturwissenschaften von der reinen, theoretischen Grundlage der Mathematik verschieden. Die Mathematik basiert auf theoretischen Konzepten, somit lässt sich hier alles genau definieren und beschreiben, ohne dass man auf fehlerbehaftete Beobachtungen zurückgreifen muss. Dies soll bitte nicht als Abwertung der genannten Naturwissenschaften verstanden, sondern nur als unterschiedliche Grundvoraussetzung gesehen werden. Diese Genauigkeit schlägt sich dann auch im Umgang mit den mathematischen Konzepten nieder. Sie ist eine Eigenart der Mathematik, welche sich in den anderen Naturwissenschaften nicht realisieren lässt – daher sollte man sie sich zu Nutze machen. Natürlich sollte man auch z.B. in der Physik möglichst genau arbeiten, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Allerdings ist es in der Anwendung durchaus möglich mit Näherungswerten zu arbeiten und etwas „schlampig“ zu sein. Ein Beispiel für solch erlaubte Schlampigkeit:
Will man den Umfang des aktuell erfahrbaren Universums berechnen (wobei wir näherungsweise annehmen, dass dies mit der Umfangsformel für einen Kreis durchgeführt werden kann), so benötigt man für die Berechnung die Kreiszahl . Schließlich lautet die Umfangsformel für einen Kreis
wobei der Radius bzw.
der Durchmesser des Kreises sind. Bei
handelt es sich um eine irrationale Zahl, d.h. diese Zahl verfügt über unendlich viele Nachkommastellen, ohne dass sich eine Regelmäßigkeit erkennen lässt. Man sieht zwar oft, dass
ist, aber man kann nicht wirklich beschreiben, welche Nachkommastellen durch diese drei Pünktchen beschrieben sind.
Gibt man sich mit einem Näherungswert zufrieden, so wird man in der Regel einen gerundeten Wert für verwenden. Wir nehmen einfach mal an, dass der Rundungsfehler kleiner als der Durchmesser eines Wasserstoffatoms sein soll, also kleiner als 50 Pikometer.
Erstaunlicherweise reicht es nun schon aus, wenn man auf 38 Nachkommastellen rundet; Numberphile hat das in Videoform nachgerechnet. Für diese Fragestellung reicht es also aus, mit einem ungenauen Näherungswert für
zu arbeiten.
Die Mathematik beschäftigt sich dagegen mit anderen Fragestellungen. Man will keine Näherungswerte berechnen, oft will man sogar überhaupt nichts berechnen. Vielmehr will man verstehen, wieso eine solche Gesetzesmäßigkeit wie die Umfangsformel für den Kreis gilt. In diesem Kontext kommt es dann wirklich auf Genauigkeit an; sowohl in den Rechnungen, als auch in der Schlüssigkeit der Argumentation.
Darüber hinaus vermag ein genaues, penibles Arbeiten aber auch Fehler aufzudecken bzw. im Idealfall Fehler zu vermeiden. Was bei ungenauer Arbeit passieren kann, soll zunächst einmal am Beispiel einer einfachen Gleichung dargestellt werden: .
Wir werden diese Gleichung nun etwas bearbeiten und verschiedene Umformungen durchführen.
Wir quadrieren also beide Seiten der Gleichung. Das liefert uns:
Wir wollen nun die Wurzel ziehen, damit wir die Gleichung wieder nach auflösen:
Hier kann offensichtlich etwas nicht stimmen. Ausgehend davon, dass
ist, haben wir nun zwei Lösungen erhalten:
Zunächst einmal: diese Umformungen würde man normalerweise natürlich nicht machen. Aber sie sind ein gutes Beispiel für ungenaues Arbeiten – und in den letzten 20 Jahren habe ich solche Umformungen durchaus auch bei Schülerinnen und Schülern oder Studierenden gesehen. Sehen wir uns also einmal etwas genauer an.
Als ersten Punkt will ich anmerken, dass keine Äquivalenzpfeile gesetzt worden sind. In der Schule wird mittlerweile auch oft darauf verzichtet, dabei sind diese extrem wichtig und sollten nicht einfach ignoriert werden. Wir könnten uns die Sache jetzt leicht machen und einfach für jeden Schritt die Äquivalenzpfeile dazuschreiben, damit kommen wir aber direkt zum zweiten Problem:
ist falsch! Äquivalenzpfeile sind nicht einfach nur kosmetischer Natur, sondern haben eine wichtige Funktion. Auf unsere Situation bezogen besagen sie, dass eine Äquivalenzumformung durchgeführt wurde, d.h. der Wahrheitsgehalt der Gleichungen ist identisch. Anders ausgedrückt: beide Gleichungen liefern die selbe Lösung. Und das Quadrieren ist nunmal allgemein keine Äquivalenzumformung.
Mathematisch betrachtet entspricht dies der Anwendung einer injektiven Funktion, d.h. einer Funktion die zwei verschiedenen -Werten stets verschiedene
-Werte zuweist. Es gibt also keine Werte
mit
.
Wenn man nun eine Gleichung quadriert, steckt dahinter die Funktion
Diese Funktion lässt sich zwar auf ganz definieren, allerdings ist sie dann nicht injektiv. So ist z.B.
Also haben wir ein Gegenbeispiel gefunden, welches die Injektivität widerlegt (es gibt für diese Funktion natürlich unendlich viele Gegenbeispiele). Damit diese Funktion injektiv ist, könnte man nun den Definitionsbereich etwa auf die positiven reellen Zahlen einschränken.
Angewendet auf die Gleichung bedeutet dies, dass beide Seiten der Gleichung entweder beide positiv oder beide negativ sein müssen, damit es sich beim Quadrieren um eine Äquivalenzumformung handelt. Dies wird in der oben durchgeführten Umformung ignoriert, weshalb sich der Fehler der zweiten Lösung ergibt. Korrekt aufgeschrieben würde es etwa so aussehen:
Da die rechte Seite der Gleichung positiv ist, muss auch die linke Seite der Gleichung positiv sein, damit es sich um eine Äquivalenzumformung handelt. Wir können nun auch im nächsten Schritt die Wurzel ziehen:
Da wir fordern, entfällt nun die Scheinlösung
an dieser Stelle. Allerdings handelt es sich auch bei der Schreibweise
bereimts um eine Abkürzung, für einen möglicherweise komplizierten Sachverhalt, der gerne außer Acht gelassen wird.
Entgegen der Meinung vieler Schüler (und auch einiger Lehrer), ist nicht einfach
, d.h. die Wurzel und das Quadrat heben sich nicht vollständig auf. Ohne weitere Anforderungen an die Variable zu formulieren, ist zunächst einmal nur:
In unserem Beispiel erhalten wir damit also:
Man hat also eigentlich eine Betragsgleichung zu lösen und muss dafür auf Fallunterscheidungen zurückgreifen. Mit der Bedingung, dass positiv ist, liefert das letztendlich die korrekte Lösung:
Natürlich ist dieses Beispiel stark übertrieben, keiner würde diese Umformungen auf diese Art durchführen und auch die Schreibweise macht keine echten Probleme.
Aber: mehrfach gesehen habe ich Rechnungen der Form
Das ist leider falsch, es ist lediglich , der Fehler liegt in einem falschen Verständnis des Wurzelausdrucks bzw. dem Unterschied zwischen der Zahl
und den Lösungen der Gleichung
Insofern sind zwar die Umformungen nicht realistisch, die Konsequenz und daraus resultierende Fehler leider schon. Das Beispiel zeigt also zumindest die Notwendigkeit einer genauen Arbeitsweise auf.
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